Pressemitteilung 2020/106 vom

Die Corona-Krise stellt psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche sowie Kinder psychisch kranker Eltern vor besonders große Herausforderungen: Kitas und Horte sind geschlossen; therapeutische Angebote brechen weg. Es bestehe die Gefahr, dass sich dadurch die psychischen Störungen bei den Betroffenen verstärken, warnt Kinder- und Jugendpsychologe Prof. Dr. Julian Schmitz (37) vom Institut für Psychologie der Universität Leipzig. Er ist Mitverfasser einer aktuellen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Darin werden die Landesregierungen aufgefordert, eine Notbetreuung für die betroffenen Kinder in Kitas und Schulen anzubieten.

Herr Prof. Schmitz, warum ist die derzeitige Situation für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche sowie für Kinder psychisch kranker Eltern aus Ihrer Sicht so dramatisch?

Die aktuelle Coronakrise stellt Familien mit Kindern vor sehr große Herausforderungen. Eltern können nicht wie gewohnt an ihren Arbeitsplatz, Schulen und Kitas sind geschlossen, es gibt ein Kontaktverbot zu Freunden. Für Eltern brechen damit die Betreuungsmöglichkeiten ihrer Kinder vollständig weg und der Druck, weiter der Berufstätigkeit nachzugehen, ist natürlich hoch. Das funktioniert insbesondere bei Familien mit kleinen Kinder sehr schlecht. Wenn ein oder mehrere Familienmitglieder psychisch krank ist, ist die Situation häufig noch viel schwieriger. Besonders für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind Tagesstruktur, Betreuungsmöglichkeiten und soziale Kontakte wichtig, damit sich psychische Störungen nicht verschlechtern.
Wenn Familienmitglieder psychisch krank sind, kommt es auch in normalen Zeiten zu gehäuften interfamiliären Konflikten und dysfunktionaler Erziehung. Auch ist das Risiko für körperliche Misshandlungen in solchen Familien erhöht. Zu diesen besonderen Belastungen von Familien mit psychisch kranken Kindern oder psychisch kranken Eltern kommt noch hinzu, dass aktuell die therapeutischen Angebote wegbrechen. Wir erhalten die Rückmeldung, dass viele stationäre Behandlungsstellen wie Kliniken oder Wohngruppen schließen und psychisch kranke Kinder und Jugendliche nach Hause entlassen werden. Auch die ambulante psychohtherapeutische und ärztliche Versorgung kann das nicht auffangen. Es müssen schnell Lösungen gefunden werden, um die Situation von Betroffenen zu entschärfen.

Eine sofortige Maßnahme, die wir  als  Deutsche Gesellschaft für Psychologie fordern, ist die Öffnung der Notbetreuung von Kitas und Schulen für psychisch kranke Kinder oder Kinder von psychisch kranken Eltern, wenn dies durch einen Psychotherapeuten oder Facharzt als individuell notwendig eingeschätzt wird. So könnten in vielen Familien Druck- und Gefährdungssituationen entschärft werden und auch eine drohende Verschlimmerung von psychischen Störungen abgemildert werden. Die aktuellen Regelungen der Bundesländer sind leider nicht ausreichend, da sie nur eine Notbetreuung für Kinder vorsehen, bei denen eine akute Kindswohlgefährdung durch das Jugendamt festgestellt wird. Viele Familien mit psychisch kranken Kindern oder psychisch kranken Erwachsenen sind dem Jugendamt aber überhaupt nicht bekannt, und in der Regel ist die Meldung einer Kindeswohlgefährdung das letzte Mittel bei unmittelbarer Gefahr. Daher geht diese Regelung am Bedarf der meisten Kinder und Jugendlichen vorbei. Wichtig ist noch zu betonen, dass wir auch nicht von hundertausenden von Kindern sprechen, die durch diese Regelung dann die Infektionsgefahr in den Kitas und Schulen erhöhen würden. Ich schätze, es wären in einer Kita oder Schule maximal fünf Prozent aller Kinder. Für diese wäre diese Maßnahme allerdings extrem wichtig.

Hat es schon eine Reaktion auf die Stellungnahme gegeben?
Wir haben die Stellungnahme vor wenigen Tagen an alle Landesregierungen und das Bundesministerium für Gesundheit geschickt. In Leipzig habe ich mich per Mail an den Oberbürgermeister gewandt und auch mit einem Landtagsabgeordneten aus dem Bildungsausschuss telefoniert. Mein Eindruck ist, dass vielen das Thema bisher nicht bewusst war, aber wenn man die Lage erläutert, schnell verstanden wird, dass dringender Handlungsbedarf besteht.

Auch die Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrien schließen aktuell wegen der Bereitstellung von Personal für die Versorgung von Coronapatienten. Welche Auswirkungen hat das für die Betroffenen?
Die Schließung von stationären Einrichtungen ist wirklich dramatisch, da an vielen Standorten nur noch Akutfälle versorgt werden, zum Beispiel bei Suizidalität. Teilweise werden auch schwer kranke Kinder und Jugendliche nach Hause entlassen, nicht selten in schwierige familiäre Verhältnisse. Ich spreche jetzt nicht gezielt für Leipzig, sondern diese Lage zeichnet sich bundesweit ab. Auch Patienten, die aktuell dringend auf eine stationäre Behandlung warten müssen, damit rechnen, dass sich dringende Behandlungen um mehrere Monate verschieben.

An wen können sich betroffene Kinder und Familien jetzt wenden, wenn sie dringend Hilfe benötigen?
Wir arbeiten aktuell in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie gemeinsam mit den Psychotherapeutenkammern mit Hochdruck daran, die Situation für psychisch kranke Kinder, Jugendliche, aber auch für Erwachsene zu verbessern. Ein Teil dessen ist es, die Politik auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Viele niedergelassene Psychotherapeuten bieten aktuell ergänzend Videotherapien an, die auch für Erstgespräche durchgeführt werden können. Eine weitere Maßnahme ist es, dass Behandlungen auch für eine gewisse Zeit telefonisch durchgeführt werden können. Daher wäre mein Rat, sich an die niedergelassenen Psychoherapeuten oder Fachärzte zu wenden. Bei akuten Krisen in Familien sollte ein Kontakt zum Jugendamt herstellt oder, wenn doch eine akute stationäre Behandlung notwendig ist, die Telefonnummer des allgemeinen Rettungsdienstes angerufen werden.

Hinweis:
Prof. Dr. Julian Schmitz ist einer von mehr als 150 Expertinnen und Experten derUniversität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.